Zu wenige Talente schaffen den Sprung in den Leistungssport
22. November 2006 (Ring) – Der November ist Bestenlistenzeit. Nach und nach erscheinen die Ranglisten, beginnend immer mit den Jüngsten. Liest man die Listen, kann man gar nicht glauben, dass der deutschen Leichtathletik die Ressourcen ausgehen. Spätestens dann, wenn so nach und nach die älteren Jahrgänge kommen, merkt man den Aderlass, der in der Frauen- und Männerklasse als besorgniserregend umschrieben werden muss. Es ist deshalb an der Zeit, ein bisschen nachzudenken über unsere Jugendlichen im Übergang zum Erwachsenwerden.
Die mentale Entwicklungs-Problemstelle
Zwar tut sich im Kopf von so manchen 15-,16- oder 17-Jährigen einiges, Elternmeinung ist längst nicht mehr Kindmeinung, Vorbilder, gute wie schlechte, gibt es zuhauf, doch in der Entscheidungsphase sprechen viele Eltern immer noch ein gehöriges Wort mit. Je nach Erziehungsstil ist dies dann ein „doch noch angenommener Ratschlag“ oder ein immer noch „autoritäres Gebot“. Nach und nach suchen die Jugendlichen immer mehr ihre eigene Vorstellung vom Leben. Mit 18 Jahren, nun auch vor dem Gesetz erwachsen, treffen die Heranwachsenden gänzlich ihre eigenen Entscheidungen. Das sind nicht immer reibungslose. Diese Befreiungsschläge kosten Energie, die dem Leistungssport verloren geht. Es entstehen nicht erkannte Überlastungen, die zum Burnout-Syndrom anschwellen können, den Leistungssport ist Nebenfeld drängen. Der Ansatz zum Leistungssport geht hier nicht selten ganz verloren.
Die Schule-Studium/Beruf-Problemstelle
Abitur hin, Abitur her, der Weg am Gymnasium ist oft schwer und doch eingefahren. Alles ist geregelt, der Tag organisiert. Neun lange Jahre wurde das auf den Leistungssport abgestimmte Zeitmanagement verfeinert, um Zeitressourcen frei zu machen. Ganz anders im Studium. Viele gehen fast orientierungslos zur Hochschule, müssen sich plötzlich um alles selbst kümmern, selbst entscheiden, was gut oder nicht gut für sie ist. Dies beherrschen in diesem Alter nur wenige, Hilfen sind selten, die „Freizeitgestaltung ohne Aufsicht“ reizt. Irritationen entstehen, oft wird schon nach zwei Semestern das Studienfach gewechselt. Der ebenfalls mögliche Eintritt in ein Berufsleben lässt sowieso in aller Regel nur eingeschränkt ein Leistungstraining zu. Die bitter nötigen Mentoren aus der Wirtschaft gibt es im deutschen Sport nicht mehr. Viele Konzerne haben sich aus der Förderung des sportlichen Nachwuchses zurückgezogen., Bundeswehr, Polizei und Bundesgrenzschutz sind die einzige Alternativen, die Absicherung nach dem Leistungssport ist in der Regel aber auch hier noch nicht ausreichend.
Die Ortswechselproblemstelle
Keine leichte Aufgabe ist es für Heranwachsende, das elterliche Kinderzimmer mit einer Studentenbude in einer fremden Stadt zu tauschen. Was zu Hause nervt: „Was machst du heute Nachmittag“ oder „was willst du essen“, oder „du solltest deinen Pullover wieder einmal wechseln“ oder „komm nicht zu spät nach Hause“ steht in keinem Verhältnis zur anfänglichen Vereinsamung eines jungen Leistungssportlers in einem fremden Zimmer, in einer fremden Stadt. Auch die Frage nach einer neuen Trainingsgruppe, nach einem neuen Trainer „ist er wenigstens genau so gut wie der bisherige zu Hause?“, nach einem Team muss selbstständig gelöst werden. Das tägliche Überleben wird zunächst zum Hauptkampfplatz, das tägliche Training eher zur Routine. Lücken entstehen der Bezug zur Leistung geht immer mehr verloren.
Die Entwicklungs-Leistungsproblemstelle
Irgendwann hat sich ein Jugendlicher voll entwickelt, geistig wie körperlich, eben so um die zwanzig, Mädchen oft schon etwas früher. Vier oder fünf Jahre ging alles gut, von Jahr zu Jahr stieg die Leistung. Aber reicht sie für den Anschluss nach oben, ganz gleich wo oben sein mag? Nicht selten ist der Satz zu hören „das hat er/sie alles mit viermal Training pro Woche gepackt“. Neigen wir Trainer nicht gern dazu, aus so manch steilen Nachwuchskarriere die besondere Güte unserer Trainingsarbeit abzuleiten und schlussfolgern falsch, wenn wir glauben, dass unser 17-jähriger Jugendlicher mit seinen 4 Trainingseinheiten in kurzer Zeit die 12-14 wöchentlichen Trainingseinheiten der Weltklasse auch bald realisieren kann. Er/sie stehen eigentlich vor einer unlösbaren Aufgabe. Öfter als uns lieb sein kann, sind die Athleten/Innen schon langzeitverletzt, noch bevor sie ein tägliches Training absolvieren müssen. Geben wir zu, wir haben daran einen angemessenen Anteil. Wohl wissend, dass die später nötigen Inhalte und Belastungen ohne eingutes Jugend-Aufbautraining und ohne die meist fehlende Trainingsinfrastruktur nicht erreicht werden können, werden die Augen verschlossen vor dem, was kommen soll, ja kommen muss.Leistungssport der modernen Ausprägung ist nicht im One-man-System realisierbar. Diedann folgerichtige Entwicklung des körperlich ausgewachsenen Heranwachsenden zum Leistungssportler erfordert ein Team, das Erfahrungen im Leistungssport hat und gut harmoniert. Diese Teams gibt es in der deutschen Leichtathletik nur sehr selten. All zu oft spielt beim Vereinswechsel oder der Studienortswahl das Geld eine Rolle, viel zu wenig wird auf die vorhandene Leistungssport-Infrastruktur am neuen Ort geachtet.
Die Trainingstätten-Problemstelle
In den Zentren mit Universitäten und Ausbildungsstätten auch Trainingszentren aufzubauen, ist längst versäumt worden. Wenn einer vielleicht in Solingen, Stuttgart, Kiel oder anderswo eine hervorragende Trainingsgruppe mit allen Möglichkeiten der Trainingsgestaltung hat, heißt das noch lange nicht, dass er diese Möglichkeiten im gleichen Disziplinblock auch in Ulm, München, Köln oder Hamburg vorfindet. Alles wird bisher meist dem Zufall der mehr oder weniger aktiven Vereine/Trainer/Manager vor Ort überlassen. Funktionärshochpolitik war in den letzten Jahren immer wichtiger als pragmatische Strukturarbeit dort, wo überhaupt eine Ballung möglich ist. Ansätze werden meist als ultimative Optimallösung angepriesen, gut für die Funktionärskarriere, gut für die Öffentlichkeit, aber schlecht für den Sportler, weil meist nur Bruchstücke vom ursprünglich „genial“ gedachten Meisterwerk übrig geblieben waren. Man muss sich auch ein wenig wundern, wie unwirksam im letzten Jahrzehnt in dieser Richtung die Olympiastützpunkte waren.
Ein Systemwechsel wäre durchaus eine Lösung
Eigentlich muss man sich ob dieser Schwierigkeiten, auf die heranwachsende Leistungssportler in aller Regel treffen, wundern, dass überhaupt noch jemand oben ankommt. Natürlich ist der „Output“ gerade dort am größten, wo mehrere Problemstellen zeitlich aufeinander treffen. Das ist in der Regel bei den 19-21-Jährigen der Fall. Längst wäre es an der Zeit, sich mit den beschriebenen Problemstellen genauer zu beschäftigen. Wichtige Helfer könnten dabei die Landesverbände sein, die aber zuerst die entsprechenden Möglichkeiten in ihren Einzugsgebieten schaffen müssten, um dann mit offensiver Werbung für ihre Uni-Standorte (natürlich mit funktionierenden Vereinen und qualifizierten Trainern / Teams im nahen Umfeld) die Voraussetzungen für einige Jahre Hochleistungstraining schaffen sollten. Die Leistungssportler unter den künftigen Studenten brauchen frühzeitig Angebote und Informationen, was am künftigen Studien- und Trainingsort möglich ist. In der Regel wird nämlich der Studienplatz nach dem Studienangebot und nicht nach dem Sportangebot gewählt. Schließlich übt man vielleicht fünf oder sechs Jahre lang Hochleistungssport aus, seinen Beruf aber ein Leben lang. Eine Entscheidung nach dem Abitur für das beste Studienangebot zu treffen, muss daher als sinnvoll angesehen werden. Die Entscheidung zum Hochleistungssport fällt in aller Regel erst später. Dem muss der Leistungssport mit seinen Verbänden in einer liberalen Gesellschaft gerecht werden.
von Kurt Ring
Fotos: Susi Lutz (Lutz Foto), Sarah Heuberger (Kiefner Foto)